Die beinahe Zerstörung von Crawinkel - Kriegstagebuch: 3. April 1945
(Aktueller Stand 2.4.2022)
Am 3. und 4. April 1945 erfolgten zwei verheerende Großangriffe aus der Luft auf Nordhausen durch das Bomber Command der britischen Royal Air Force durch Abwurf von 2.386 Tonnen Bombenlast. Sie zerstörten über 75 % der Kreisstadt am Südharz und forderten mindestens 8.800 Menschenleben. Creuzburg, Nordhausen und Crawinkel stehen seitdem beispielhaft und mahnend für die zerstörerische Wirkung des Zweiten Weltkrieges in Thüringen.
Die beginnende Auflösung des Häftlingslagers Crawinkel kann aufgrund der vorliegenden Aussagen ebenfalls zusammen mit Beginn der Todesmärsche mit dem 3. April 1945 angenommen werden. Nachdem das Lager geräumt war, nutzten in den letzten Kriegstagen viele Einwohner aus Wölfis und Crawinkel die Möglichkeit, Lebensmittel, Kleidung und weitere Gebrauchsgegenstände aus den verlassenen Muna Gelände zu holen. Viele weitere Baumaterialien wurden nach dem Krieg meist durch Einwohner der umliegenden Orte, vor allem auch aus Crawinkel, zum Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser und Scheunen genutzt. Das Lager Crawinkel bildete zum Kriegsende scheinbar das neue Hauptlager, nachdem das entfernte Nordlager auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf zum Krankenrevier umfunktioniert wurde.
Ausreichend Platz war in der Muna vorhanden bei ungünstigsten Lebensbedingungen in der „Hölle“ von Crawinkel, wie es Überlebende wie Fred Wander beschrieben. „Am ersten Morgen von Crawinkel sahen wir: Im Bunker lagen Russen, Juden, Franzosen, Polen. Immer zwei oder drei hatten ihre erstarrten Leiber unter eine Decke gepreßt, um sich gegenseitig zu wärmen. Um vier Uhr früh jagten sie uns hinaus in die Kälte. Sterne blinkten stählern hinter Wolkenfetzen hervor, Wind zauste die Fichten. Capos hetzten uns zwischen den Bunkern zum Tor: Schneller, hierher, ihr Idioten, in Reihen aufstellen, abzählen, aber flott! – Das Scharren der tausend hölzernen Latschen, schrille Pfiffe, brutale Rufe irgendwo im Wald. Wir hörten niemanden klagen. Wer nicht mehr konnte, ließ sich fallen. Nur ein Wort pflanzte sich weiter von Reihe zu Reihe: Das ist die Hölle, dos Gehennem, c’est l’enfer!“
Seit dem 3. April verliesen auch plötzlich die zivilen Bauarbeiter der Jonastalbaustelle sowie Angestellten aus Planungsbüros und Baustäben unseren Heimatort. Seit Herbst 1944 gab es sehr viele, zusätzliche Einquartierungen dieser Art, die auch etwas bezahlt wurden. Unter den Gastgebern und Gästen entwickelten sich oft sehr gute Beziehungen, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg und auch während des Kalten Krieges andauerten. Als letzter Arbeitstag auf der Jonastalbaustelle gilt der 2. April 1945. Am 3. April wurden die täglichen Kolonnen von ca. je 100 Mann marschierender Häftlinge zum letzten Mal Frühs zu sehen. Abends kamen diese Kolonen nicht, wie sonst üblich, zurück. Die Evakuierung der Häftlingslager musste begonnen haben. Schon Tage zuvor wurden immer mehr und immer größere dieser streng bewachten Marschkolonnen durch den Ort beobachtet. Dies mussten Häftlinge aus anderen Außenkommandos von Buchenwald gewesen sein, die bereits seit Tagen unterwegs durch den Thüringer Wald waren und vor der herannahenden Front ins Stammlager Buchenwald zu Fuß evakuiert wurden. Ihre Erschöpfung war ihnen sichtlich anzusehen. Diese Evakuierungen werden später als Todesmärsche in die Geschichte eingehen. Grauenhafte, unmenschliche Szenen spielten sich dabei entlang der Straßen und Dörfer bzw. Städte ab.
Mit dem Abbruch der Bauarbeiten im Jonastal am 3. April 1945 verließen die meisten Verantwortlichen fluchtartig die Quartiere und Bauplätze. S III war der Deckname für das Bauvorhaben sowie für alle Häftlingslager in Ohrdruf, Crawinkel und Espenfeld. Das Ziel war der Bau einer unterirdischen Führungsstelle für die politische und militärische Führung des Dritten Reiches als Teil des geplanten Führerhauptquartiers in Thüringen. Im Tal zwischen Crawinkel und Arnstadt mussten zum Ende des Zweiten Weltkrieges Tausende Zwangsarbeiter unter großem Zeitdruck 25 Stollen in den Muschelkalk vortreiben. Die Arbeits- und Überlebensbedingungen waren bei diesem Bauvorhaben besonders schlecht.
Ebenfalls am 3. April begann die überstützte Evakuierung der Häftlingslager zuerst in Ohrdruf und kurz darauf auch in Crawinkel und Espenfeld. Die Todesmärsche in der Region begannen mit dem Ziel Buchenwald. Ein letztes Mal mussten viele der Häftlinge am Ort ihres größten Martyriums vorbeimarschieren und der Weg bis nach Buchenwald schien endlose. Nur ein Teil der Überlebenden wurde in Buchenwald befreit, für den dann ebenfalls der weitere Überlebenskampf erst richtig begann inklusive der Integration in ein normales, menschenwürdiges Leben. Eine zusammenhängende Übersicht der Todesmärsche in der Region ist schwierig, da sich auch einige Zeugenaussagen aus der Bevölkerung widersprechen. Wissen muss man auch, dass schon vor dem 3. April weitere Außenkommandos des KZ Buchenwald zum Beispiel aus dem Bereich Schmalkalden evakuiert wurden. So wurden zum Beispiel auch die Häftlinge der U-Verlagerungsprojekte „Renntier“ und „Kalb“ durch Ohrdruf und Crawinkel getrieben, die ab dem 28. März zu Fuß in Richtung Buchenwald unterwegs waren. Viele dieser Häftlinge waren bereits derart geschwächt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Des Weiteren scheint eine Kolonne aus Abteroda über Schmalkalden durch Crawinkel gezogen zu sein von einem Frauen-Außenlager der BMW-Werke. Weitere Marschkolonnen aus Springen, Merkers und Bad Salzungen kommen in Frage, die ebenfalls Zeitzeugen aufgefallen sein könnten. Es war nicht offensichtlich, welche Häftlinge aus welchem Lager Thüringens hierher und durch Crawinkel getrieben wurden.
Der Überlebenden S III Häftling Wiktor Wyscheslawskij aus Russland sagte aus, dass die Häftlinge von S III unterernährt und erschöpft nach Buchenwald gejagt wurden. Wer zurück blieb wurde erschossen. Die letzten Kilometer ging der 17jährige mit zwei Stöcken. Er war sehr krank und hatte auf dem rechten Bein ein großes Geschwür, verursacht durch die zu engen Holzpantoffeln. Er überlebte den Todesmarsch nur, weil ihm deutsche Kameraden in Buchenwald halfen. Einer hieß Hermann Brill, aufgewachsen in Gräfenroda, später Abgeordneter des Reichstags, nach dem Krieg erster Regierungspräsident von Thüringen während der amerikanischen Besetzung. Wie Wiktor überlebte, konnte er selbst nicht mehr genau sagen.
Die S III Häftlinge wurden hauptsächlich auf 3 unterschiedlichen Strecken und Umwegen nach Buchenwald getrieben:
1. Ohrdruf – Crawinkel – Gräfenroda - Plaue – Stadtilm – Kranichfeld – Bad Berka – Buchenwald.
2. Crawinkel – Espenfeld – Siegelbach – Nahwinden – Kranichfeld – Tonndorf – Buchenwald.
3. Espenfeld – Jonastal – Arnstadt – Stadtilm - Nahwinden – Kranichfeld – Tonndorf – Buchenwald.
Im Durchschnitt betrug die Entfernung nach Buchenwald 85 Kilometer und die Marschdauer mindestens 3 bis 4 Tage. In Buchenwald wurde die Ankunft von insgesamt 8.989 Häftlingen von S III dokumentiert. Für viele Häftlinge wurde dieses Martyrium zwangsläufig zum Todesmarsch. Aktuell sind die Grabstellen für rund 300 Opfer entlang der Routen bekannt. Weitergehen oder vor Erschöpfung umfallen und durch eine Kugel oder einen Knüppel sterben, das waren die einzigen Alternativen kurz vor Kriegsende. Getrieben von Beschimpfungen, Schlägen und den Bissen der Hunde schleppten sich die Häftlinge von S III über unsere Straßen parallel zu Truppentransporten der zurückweichenden Verteidiger. Die Straßen waren immer wieder verstopft und es bestand die Gefahr von Tieffliegerangriffen, die nicht immer zwischen Soldaten und Häftlingen unterscheiden konnten. Nach den Unterlagen der Volkspolizei im Kreis Arnstadt wurden noch sieben Jahre später, am 28. Januar 1952, Opfer des Todesmarsches auf der Strecke Espenfeld – Siegelbach am Straßenrand gefunden.
Einige der Marschkommandos aus S III erreichten das Stammlager in Buchenwald nicht, da unterwegs eine Umleitung erfolgte und die Front zu nahe vorrückte. Die Crawinklerin Toni Böttner berichtete nach dem Krieg über ein Wiedersehen mit dem Überlebenden Josef Gelbhardt: „Dann hieß es, die Häftlinge werden evakuiert. Beim Abtransport steckte ich Gelbhardt ein großes Stück Fleisch und ein Brot in den "Futtersack". Man trieb die Häftlinge zusammen und durch die Hintergasse (in Crawinkel) ins Jonastal fort. 1947 besuchte mich Gelbhardt und erzählte: ‚Wir wurden mit 4.ooo Häftlingen aus dem Sonderlager III des KZ-Buchenwald in Crawinkel abgetrieben. Es war ein langer und schwerer Weg. Nur 7oo Häftlinge kamen davon in Regensburg/ Bayern an. Völlig erschöpft und krank. Ihnen, Toni, habe ich mein Leben zu verdanken und dem letzten Stückchen trocken Brot, das ich bis kurz vor Regensburg noch hatte. Viele von uns waren schon im Jonastal zusammengebrochen. Wir wurden unterwegs geschlagen, viele erschlagen, von den Hunden, der uns vorantreibenden SS-Posten gebissen und erschossen – in den Straßengraben geworfen.‘"
Klaus-Peter Schambach
Förderverein Alte Mühle e.V.