Die beinahe Zerstörung von Crawinkel - Kriegstagebuch: 8. April 1945
(Aktueller Stand 10.4.2022)
In der Endphase des Zweiten Krieges erhielt Generalfeldmarschall Albert Kesselring am 11. März 1945 als Nachfolger Generalfeldmarschalls Gerd von Rundstedts den Oberbefehl über die gesamte Westfront, die während des Krieges einst bis zum Atlantik reichte. Die Befehlsgewalt galt nun auch für die Zeit, als die Front hinter die Reichsgrenze zurückfiel bis hin zu ihrem Durchbruch zur Ostfront. Nach der Rheinüberquerung von US-Truppen setzte Hitler den bisherigen Oberbefehlshaber West (OB West) persönlich ab. Kesselring wurde am 8. März, einen Tag nach der Einnahme der Ludendorff-Brücke bei Remagen, ins Führerhauptquartier dazu einbestellt und ernannt. Einen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges hatte er infolge der nicht mehr zu stoppenden Rheinüberschreitung durch die Alliierten nicht mehr wirklich.
Anfang März 1945 soll dann der OB West Kesselring zunächst in Crawinkel und bald darauf im standesgemäßen Schloß Reinhardsbrunn Quartier bezogen haben. Diesem Umstand wurde bei der bisherigen Jonastal-Forschung meiner Ansicht nach zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Da wo der OB West ein Hauptquartier oder einen Befehlsstand für die gesamte Westfront betrieb, benötigte er zwingend ausreichend Unterkünfte, Schutz und direkten Anschluss an das militärische Fernmeldenetz für Fernsprech- und Fernschreibverkehr. Wo kann das aber in oder bei Crawinkel gewesen sein? Im Jonastal und drumherum waren noch keine Räumlichkeiten fertig. Es muss also eine provisorische Führungsstelle gegeben haben. Der Stabszug von OB West Kesselring soll einige Zeit am Bahnhof Crawinkel abgestellt gewesen sein. Augenzeugen haben mir dies gegenüber mehrfach bestätigt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass der Stabszug am 6. Februar 1945 von Tieffliegern in Crawinkel angegriffen worden sein soll, als gleichzeitig auch ein verheerender Luftangriff amerikanischen Bomber auf die Stadt Ohrdruf erfolgte. Dann wäre der Zug schon vor der Ernennung zum OB West hier gewesen sein. Dies gilt es aber weiter zu untersuchen.
Kesselring verlegte dann Ende März 1945 sein Hauptquartier in den Harz. Die Angaben dazu variieren bisher vom 1. April bis 3. April 1945. Die Amerikaner hatten zu dieser Zeit die Werra-Verteidigung bei Creuzburg durchbrochen, drangen in Thüringen ein und erreichten am Abend des 4. Aprils die Stadt Ohrdruf. Der OB West verlies nur kurz vorher mit seinem Befehlszug den Raum Ohrdruf - Crawinkel und erreicht am 3. April 1945 die Gegend zwischen Elbingerode und Drei-Annen-Hohne, wo er sein neues Hauptquartier aufschlug. Er wollte von dort aus einen geplanten Befreiungsangriff von außen auf die eingeschlossenen Truppen im Ruhrkessel aus der Einschließung führen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass er stellenweise vom Zug aus die Verteidigungstruppen geführt hatte. Die Züge waren wie rollende Hauptquartiere aufgebaut mit allen notwendigen Ausrüstungsgegenständen. Dies konnten aber nur temporäre Lösungen sein. Als derzeit wahrscheinlichstes Quartier kommt das alte Jägerhaus (heute Falkenhorst) in Frage, wo zum Kriegsende von Zeitzeugen immer wieder ranghohe Militärs und Bauverantwortliche für die Jonastalstollen gesehen wurden. Vor dem Gebäude wurden nach der Wende bei Straßenarbeiten dickere Nachrichtenkabel ausgegraben, die aus Richtung Ohrdruf durch den Wald kamen und vermutlich weiter bis nach Oberhof führten. Es ist derzeit ebenfalls wahrscheinlich, dass die Bauleitung fürs Jonastal zum Ende des Krieges in diesen Gebäudekomplexen untergebracht war. Unter anderem haben Zeitzeugen auch Heinrich Lübcke beim Jägerhaus und auch in Wölfis gesehen, der später Bundespräsident der BRD war. Dies ist aber wieder eine ganz andere Geschichte. Crawinkel war jedenfalls zweifelsfrei durch die direkte Lage und Straßen- sowie Schienenanbindung wichtig für das Bauvorhaben Jonastal, weil sich hier nachweisbar auch Baustäbe und der S III Vermessungsstab einquartiert hatten.
Der OB West befehligte die ihm zugeordneten deutschen Truppen, die nach Armeen/Armeeoberkommandos (AOK) –> Armeekorps –> Divisionen gegliedert waren. Für Mittel-Thüringen spielte die 7. Armee/AOK 7 die tragende Rolle bei der Verteidigung. Dies war ein Großverband des Heeres der Wehrmacht mit dem Oberkommando über jeweils wechselnde Armeekorps sowie zahlreicher Spezialtruppen. Die Stärke eines Korps schwankte zwischen zwei und fünf Divisionen (meistens 3). Im Bereich der 7. Armee hatten amerikanische Einheiten am 23. März den Rhein überschritten und stießen nun nach Osten vor. Das LXXXV. Armeekorps erhielt den Auftrag, den amerikanischen Brückenkopf auf dem Ostufer des Rheins zu beseitigen und die bisherige Stellung zu halten, was misslang. Die südlich von Frankfurt eingesetzten Kräfte waren derart abgekämpft, dass sie für eine ernsthafte Verteidigung nicht mehr infrage kamen. Zur Unterstützung sollten dem Korps die 11. Panzer-Division und die 6. SS-Gebirgsjäger-Division zugeführt werden. Das LXXXV. Armeekorps bemühte sich auch im Raum nördlich von Frankfurt vergeblich Widerstand zu leisten. Die Masse ihrer Kräfte wurden im Frankfurter-Raum eingekesselt. Der Stab des Korps wurde bei den Kämpfen zerschlagen und sammelte sich in Eisenach, wo er aufgefrischt wurde und den Auftrag erhielt, eine Abwehrfront an der Werra und am Westrand des Thüringer Waldes aufzubauen. Reste der 11. Panzer-Division kämpften noch weiter im Raum Friedrichroda – Oberhof ab 7. April.
Spätestens am 8. April musste das LXXXV. Armekorps nach dem Verlust von Friedrichroda und Dietharz den Bereich Finsterbergen räumen. Die Amerikaner waren von Tambach aus in Dietharz eingedrungen. Die in Finsterbergen frei gewordenen Kräfte wurden benötigt, um ein Eindringen der Alliierten von Ohrdruf aus in die Waldstücke bei Stutzhaus (OT Luisenthal) zu verhindern. Verzweifelt wurde versucht, die Einkesselung im Thüringer Wald zu verhindern. In der Nacht zum 9. April räumte die 11. Panzer-Division den fast schon eingeschlossenen Teil des Thüringer Waldes westlich der Straße Ohrdruf – Oberhof im Bereich Tambach-Dietharz und Luisenthal. Es gelang ihr noch einmal, eine Sicherungslinie auf der Ostkuppe des Rennsteiges aufzubauen. Von nun an war Crawinkel Hauptkampflinie und im Herzen der Westfront. (Quelle: http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Korps/LXXXVKorps-R.htm)
Es gilt daher als wahrscheinlich, dass die Stäbe des LXXXV. Armekorps sowie der Divisionsstab der 11. Panzer-Division vorher als nächstes Ausweichquartier Crawinkel ansteuerten und dies schon einige Tage vorher vorbereitet hatten.
Während in Crawinkel und rund um Ohrdruf noch gekämpft wurde, stellte sich in der Stadt in den nächsten Tagen der Besatzung bereits etwas Normalität ein. Jupp Roth, Ausscheller der Stadtverwaltung, war mit dem Ausrufen öffentlicher Bekanntmachungen betraut. Er hatte lange Wege zu gehen, um der gesamten Bürgerschaft bekannt zu machen, dass alle im Heeresverpflegungsamt entnommenen Waren wieder abzuliefern sind. Eine Sammelstelle war in der Trinitatisschule eingerichtet worden. Dieser Ausruf wurde verständlicherweise nur sehr halbherzig von den Einwohnern befolgt. Die Beute wurde eher noch besser versteckt. Leute, die beim Be- und Entladen beobachtet wurden, überlegten genau, wovon und in welchem Umfang man sich wieder zum Schein trennte. Ein großer Erfolg war die Sammelaktion indes nicht, da noch vor der Sammelstelle diejenigen beklaut wurden, die ihre Waren kurz unbeaufsichtigt vor der Schule abstellten. Weiterhin wurden die Bürger aufgefordert, Waffen aller Art, Fotoapparate und Ferngläser im Rathaus abzuliefern. Die Abgabe wurde vom Ohrdrufer Polizisten Wittmann in den Räumen der heutigen Stadtkasse kontrolliert und durchgeführt. Er wurde dabei selbst von den Amerikanern überwacht. Eine Quittung für die Abgabe erhielten die Leute nicht. Nach dem Selbstmord des Bürgermeisters setzten die Amerikaner den ehemaligen Stadtsekretär Paul Andrä als kommissarischen Bürgermeister ein. Seine Amtszeit war aber nur kurz, da bekannt wurde, dass er Mitglied der Ohrdrufer SA-Gruppe war. Ihn ersetzte wiederum der Angestellte Karl Helder.
Die 80. US-Infanteriedivision wurde zwischenzeitlich von Kassel nach Gotha verlegt. Ab dem 7. April begannen sie im Raum Gotha mit Patrouillen der Front entlang der Linie Döllstädt – Großfahner – Gierstädt – Bienstädt – Zimmernsupra – Grabsleben – Cobstädt – Wandersleben – Sülzenbrücken abzutasten. Die nächsten Ziele dieser Division waren Erfurt und Weimar. Eine Aufklärungspatrouille mit dem Ziel traf auf Widerstand bei Neudietendorf. Dort hatte sich Volkssturm eingegraben. Dieses Abtasten entsprach den gleichzeitigen Einnahmeversuche von Crawinkel ebenfalls am 7. April, die von der 89. US-Infanteriedivision von Wölfis aus ausgeführt wurden.
Marianne Ballenberger aus Crawinkel erinnerte sich an den 8. April noch ganz genau. Am Morgen waren alle zeitig wach. Sie ließ nicht locker, um im Wald Unterschlupf zu suchen. Bloß raus aus dem Dorf! Sie packten eine große Menge an Proviant, etwas Wäsche sowie viele Decken auf einen Handwagen und ein Fahrrad. Frühs viertel 8 zogen sie los. Auf Friedrichsanfang suchten sie zum ersten Mal Deckung, als Tiefflieger auftauchten. Ihr Sohn Alfred Ballenberger erinnerte sich noch an den Angriff. Er half seiner älteren Schwester mit dem Kinderwagen und dadurch waren sie etwas zurückgeblieben. Der Tiefflieger flog sehr dicht über sie hinweg und man konnte alles sehen. Sie hatten schon beide mit dem Leben abgeschlossen, hatten aber Glück, weil der Pilot nicht schoss. Danach ging es auf dem schnellsten Weg in den Wald im Bereich „Toter Mann“! Ein gutes Omen? Dort waren schon viele andere Einwohner aus Crawinkel. Die Männer bauten eine Hütte, damit die Familie etwas Schutz hatte für die Nacht. Mittels Heues aus einer Fütterung und Fichtenreisig machten sie sich ein Nachtlager. Wie lange musste man wohl hier oben bleiben und war der Wald wirklich sicher?
Die Hitlerjugend, die bisher am Ortsrand patrouillierte, wurde wieder abgezogen, bevor es richtig los ging. Durch die Gemeindeverwaltung wurden am 8. April morgens sieben Uhr alle männlichen Einwohner aufgefordert, sich in der Gemeindeschenke zum Volkssturm zu melden. Der „große Führer“ mobilisierte sein letztes Aufgebot in letzter Sekunde! Aber viele Einwohner ignorierten diesen Befehl ungeachtet der angedrohten Konsequenzen. Am Nachmittag löste dann der Verantwortliche für den Crawinkler Volkssturm, Forstmeister Gehrhardt, den Volkssturm offiziell auf. Er hatte wohl die Sinnlosigkeit eines weiteren Blutvergießens erkannt, da auch keine zusätzlichen Waffen vorhanden waren. Während Wehrmachtseinheiten das Dorf weiter sicherten, flohen die meisten Einwohner in die umliegenden Wälder und ins Jonastal. Die Artillerie- und Luftangriffe auf den Ort wechselten sich weiter ab. Dankmar Leffler beschreibt, dass die Kirche immer wieder getroffen wurde und die Beschießung des Marktes und des gesamten Gebietes um den Backhausplan mit Phosphorgranaten erfolgte. Auch die kleine Bahnhofstraße und ein Teil der großen Bahnhofstraße wurden bombardiert.
Dabei gab es auch besonders tragische Schicksalsschläge. Toni Böttner verlor ihre Tochter Lisbeth Marwede. Diese war mit dem Kind und anderen Einwohnern ebenfalls ins Jonastal geflüchtet, wo die inzwischen verlassenen Baubuden genügend Möglichkeiten des Unterschlupfes boten. Während einer Beschusspause ging sie zurück ins Dorf zu ihrer Mutter, um Lebensmittel zu holen. Wenige Minuten nach Verlassen des Elternhauses wurde ihr in unmittelbarer Nähe der Kirchmauer durch einen amerikanischen Tieffliegerangriff der Kopf weggeschossen. Zwei Tage zuvor hatte sie noch Glück, als sie der Kugel eines verbohrten deutschen Hauptmanns entging, der sie schon wegen ihrer weißen Fahne am Haus hinrichten wollte. Toni Böttner bat nun einige Polen, die als Zwangsarbeiter im Ort eingesetzt und jetzt frei waren (keine ehemaligen Häftlinge), ihr fünfjähriges Enkelchen Edith aus dem Jonastal zu holen. Einer von ihnen erbarmte sich und holte das Kind zurück nach Crawinkel. Bei der Rückkehr sagte das Kind: „ Omi, im Jonastal liegen so viele Tote und immer fahren die Autos drüber.“ Diese Erlebnisse beim Anblick vermutlich von Opfern des Todesmarsches blieben mit Sicherheit ein Leben lang unvergessen.
Der überlebende Häftling Zygmunt Holcer teilte ebenfalls seine Erinnerungen und seinen Leidensweg mit uns. Er war einer der ersten Häftlinge, die am 6. November 1944 nach Ohrdruf verschleppt wurden. Als Schreiber hatte er unvergleichlich bessere Überlebenschancen. Er ging mit der letzten Kolonne aus dem Lager Ohrdruf, die nur von den ehemaligen Auschwitzern belegt war. Der Lagerkommandant hatte zum Abschied gesagt: „Ich gebe euch nur vier Bewacher, aber lauft nicht weg, weil der ganze Evakuierungsweg ist von Wehrwolf und bewaffneten, alten Männern bewacht“. Die Wahrheit seiner Worte hatte sich schon nach ein paar hundert Metern bestätigt. Es liefen vier Leute von der Kolonne weg und bald hörten die Anderen ein paar Schüsse. In der Nacht, während des Marsches, beobachteten sie den Brand des Nordlagers und die Panzergeschosse über dem Hügel des Lagers. Morgens, am 4. April 1945, kamen sie über Arnstadt bis Stadtilm und beobachteten den Rückzug der deutschen Armee. Auf ungefähr halben Weg zwischen den beiden Städten wurden 3 Züge, in einer Entfernung von 100 Metern, am Bahnhof durch Jagdbomber in Brand gesetzt. Nach der Übernachtung erfolgte der Weitermarsch am 5. April 1945 in Richtung Bayern über Sundremda (bei Saalfeld/Rudolstadt). Er sagte weiter aus: „Es gelang uns, den Bewachern zu erklären, dass wenn wir nach Süden gehen würden, dort die Amerikaner treffen und sagen könnten, dass sie uns hier hin mitgebracht haben – so könnten sie gerettet werden. Es schien, dass die Bewacher auf unseren Vorschlag eingingen. Also haben wir uns bei der nächsten Strohhütte endlich schlafen gelegt. Aber gegen Morgen haben uns die Bewacher mit Kolbenstößen und mit den Worten geweckt: ‚… und was passiert mit uns, wenn die Deutschen den Krieg gewinnen?’ So schickten uns die Bewacher nach Buchenwald zurück. Dann kamen wir nach Remda und wir gingen wieder auf dem ‚richtigen Weg’ nach Weimar (30 km).“ Nach der nächsten Übernachtung erfolgte am 6. April 1945 der Weitermarsch nach Weimar und Buchenwald. Am 7. April 1945 übernachteten sie bereits in Buchenwald. Am 8. April 1945 erfolgte um 7 Uhr morgens die Abfahrt mit einem Transportzug (Strecke: Chemnitz – Leipzig – Dresden). Sie kamen an dem gleichen Tag in die Evakuierung des Stammlagers in Buchenwald, als Crawinkel weiter umkämpft war. Sie stiegen gegen 21 Uhr in Leitmeritz (in Sudeten, heutigen Czechische Republik) aus. Es dauerte noch viele Tage, bis auch für diese Überlebenden der Krieg zu Ende war. Viele ihrer Mithäftlinge überlebten den Todesmarsch oder die erneute Evakuierung von Buchenwald nicht.
Klaus-Peter Schambach
Förderverein Alte Mühle e.V.