Die beinahe Zerstörung von Crawinkel - Kriegstagebuch: 5. April 1945
(Aktueller Stand 4.4.2022)
Am 5. April 1945 wurde gegen 7 Uhr der Kampfkommandant Gothas, Oberstleutnant Josef Ritter von Gadolla, für seinen Mut und gleichzeitiger Befehlsverweigerung in Weimar zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen. Als seine letzten Worte sind überliefert: „Damit Gotha leben kann, muss ich sterben!“ Auf einer Tafel am Schloss Friedenstein wird später stehen: "Gadollas mutiges Handeln bewahrte tausende Menschen und die Stadt Gotha vor der Vernichtung". Die Stadt war zum Zeitpunkt der Einnahme zusätzlich bis an die Grenze des Möglichen gefüllt mit Evakuierten aus zerbombten Städten im Rheinland und aus Berlin sowie Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Zudem gab es Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter vor allem aus der Rüstungsindustrie. Beim Vormarsch in die Stadt Gotha am Vortag hatten amerikanische Streitkräfte die Arnoldischule und die Handelsschule besetzt, die als Lazarett genutzt wurden. Die 400 verwundeten Soldaten wurden zu Kriegsgefangenen erklärt. Wie am Vortag rollten fast ununterbrochen amerikanische Kampfgruppen mit verschiedensten Fahrzeugen den Schützenberg runter sowie über die Eisenacher Straße in die Stadt. Sie fuhren unverzüglich weiter nach Süden. Weitere Einheiten folgten und übernahmen die Organisation der Besatzung. Ein amerikanischer Soldat, vermutlich ein Souvenirjäger, wurde dabei beobachtet, wie er am Haus Adolf-Hitler-Platz 23/Ecke Dietrich-Eckart-Straße (seit 1945 wieder Hauptmarkt/Ecke Jüdenstraße) das Straßenschild „Adolf-Hitler-Platz“ abschraubte. Vor einem Gebäude an der Ecke Eisenacher Straße/Skagerrakplatz (heute Bertha-v.-Suttner-Platz mit "Medi Max") wurden deutsche Kriegsgefangene zusammengetrieben und übergangsweise gefangen gehalten. Bis Anfang Juli 1945 sollte darin das Hauptquartier bzw. die Kommandantur der Amerikaner sein. Gemäß der Konferenz von Jalta wechselte dann die Besatzung ganz Thüringens auf sowjetische Besatzungstruppen.
(Quelle für Details und Fotos:
https://commons.wikimedia.org/wiki/Arrival_of_the_US_army_1945_in_Gotha)
Eisenach lag ab dem 1. April unter amerikanischem Artillerie-Beschuss und erlebte regelmäßig Tieffliegerangriffe. Seit dem 4. April galt die Stadt als vom Gegner fast eingeschlossen. Auf der Autobahn meldeten deutsche Aufklärer bis Gotha in Richtung Erfurt regen, feindlichen Nachschubverkehr. Viele der deutschen Soldaten unter anderem in Eisenach waren nur noch unzureichend bewaffnet. Nicht jeder besaß eine Maschinenpistole und nur wenige hatten Panzerfäuste. Wer nicht weiterkämpfen und sterben wollte, setzten sie sich in Richtung Friedrichroda ab. In der Nacht vom 4. zum 5. April zogen sich ebenfalls die meisten Einheiten der deutschen 11. Panzerdivision langsam zurück, nachdem sie in Eisenach immer weiter an den Stadtrand gedrückt wurden. Sie erhielt nun den Befehl, östlich der Linie Wutha - Ruhla – Schweina die in den Thüringer Wald führenden Straßen und Wege zu sperren und das Eindringen des Feindes in Richtung Rennsteig zu verhindern. Der Divisionsstab verlegte daher nach Finsterbergen. Kurz darauf wurde nur noch das Waldgebiet zwischen Friedrichroda und Oberhof durch die Division gehalten. Am gleichen Tag fielen erneut Flugblätter vom Himmel. Darauf stand ein Ultimatum, dass Eisenach bis 19 Uhr zu übergeben ist. Ansonsten drohten massive Luftangriffe. Verängstigte Bewohner versuchten die SS zu überzeugen, auf das Angebot einzugehen, doch Generaloberst Kesselring verweigerte die Kapitulation und ordnete bedingungslosen Widerstand an. Zwei amerikanische Parlamentäre, die am selben Tag mit weißer Fahne an ihrem Jeep ein Kapitulationsangebot unterbreiten wollten, ließ man erfolglos abziehen. (Internet Quelle: www.mdr.de sowie Buch: Panzerkeile auf der Thüringer Autobahn April 1945, Jürgen Möller. Diese Quellen werden im weiteren Tagebuch öfters herangezogen.)
Nach der Einkesselung Meiningens am 3. April 1945 durch die 11. US-Panzerdivision näherten sich am 5. April Einheiten aus Richtung Zella-Mehlis. Der starke, anfängliche Widerstand der deutschen Verteidiger wurde nach kurzer Zeit durch die materielle und strategische Überlegenheit der amerikanischen Truppen aufgerieben. Nach kurzen Kampfhandlungen wurden Meiningen und der Flugplatz von der 11. US-Panzerdivision eingenommen. Der Bürgermeister erhielt anschließend die Anordnung, in der Stadt weiße Fahnen zu hissen. Die 3. US-Armee von General Patton wartete anschließend entlang der Linie Meiningen - Oberhof – Ohrdruf - Gotha – Bad Langensalza - Mühlhausen auf das Aufschließen der 1. und 9. US-Armeen.
In Ohrdruf wiederum wurde kurz nach der Einnahme bereits am Donnerstag dem 5. April 1945 ein Ausgehverbot durch die amerikanische Kommandantur mit Ausnahme der Zeiten von 8 bis 10 Uhr vormittags sowie 14 bis 16 Uhr nachmittags verhängt. Die Stadt war bis auf Höhe Berufsschule/“Pochs-Kurve“ fest in amerikanischer Hand. Südlich davon lagen noch versprengte deutsche Einheiten. Aber auch in dieser Zeit konnten sich die Einwohner noch nicht sicher in der Stadt bewegen. Der 14jährige Willy Stegmann wurde ohne ersichtlichen Grund von einem amerikanischen Tiefflieger in der Waldstraße erschossen. (Quellen: „100 Jahre Truppenübungsplatz Ohrdruf“, Manfred Ständer und Peter Schmidt sowie „Tatort Jonastal“, K.-P. Schambach. Diese Quellen werden ebenfalls im weiteren Tagebuch öfters herangezogen.)
In Georgenthal wurde am Abend des 5. April 1945 der Kaufmann und Reserveoffizier Otto Fabian ermordet. In den letzten Kriegstagen 1945 tat der "wehruntaugliche" Offizier der Reserve im Offizierskasino auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf Dienst. Er war kurz vor seiner Ermordung erneut im Kasino und musste bei der Versorgung vermutlich der letzten deutschen SS Leute aushelfen. Dabei bekam er mit, dass das Häftlingslager Ohrdruf bereits geräumt war und sich die SS auf dem Rückzug befand. Otto Fabian eilte daraufhin nach Zeugenaussagen nach Hause und machte die Lagerverlegung und den Abzug öffentlich. Er soll sich hierbei über die Aussichtslosigkeit der militärischen Lage geäußert haben. Er wurde denunziert, verhaftet und bei einem angeblichen Fluchtversuch am Schwabhäuser Kopf von fanatischen Wehrmachtsangehörigen ermordet. Den Leichnam legten sie dann zur Abschreckung mitten im Ort auf dem Milchsplatz, „Platz der SA“ (heute Otto-Fabian-Platz). Der Tote bekam ein Pappschild um den Hals gelegt mit der Aufschrift „Volksfeind. So endet ein Volksverräter.“ (Quelle: Roland Scharff)
Bei Tageslicht auf dem Truppenübungsplatz erfassten die ersten GIs erst das Ausmaß von dem, was sie am Vorabend auf dem Truppenübungsplatz besetzt hatten. Sie sahen zum ersten Mal ein „Horror Camp“ (Schreckenslager), so wie es General Patton später in seinen Erinnerungen festhielt. Die katastrophalen Haft- und Versorgungsbedingungen in Ohrdruf prägten sich tief in die Gedächtnisse der US-Soldaten ein. Überall lagen Leichen. Sie entdeckten verbrannte Tote auf einem Rost aus Eisenbahnschienen. Gliedmaßen ragten aus teilweise geöffneten Massengräbern heraus, in einer Baracke stapelten sich ermordete, ausgehungerte Körper und mitten auf dem Appellplatz lag eine Gruppe erschossener Häftlinge. Sofort begannen die Soldaten alles zu dokumentieren und die Befehlszentralen zu informieren. Das Nordlager in Ohrdruf war das erste Häftlingslager in dieser Form, das amerikanische Soldaten auf ihrem Vormarsch durch Europa mit eigenen Augen gesehen hatten. Man sagt, sie hätten nach Ohrdruf anders, noch verbissener gekämpft. Sie entschieden sich, umgehend den grausamen Fund der nationalsozialistischen Verbrechen für die Weltöffentlichkeit genau zu dokumentieren. Aus diesem Grund begann man nicht sofort damit, die Toten angemessen zu beerdigen. Was heute grausam und unmenschlich erscheint, diente der Dokumentation der stattgefundenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Von einer Befreiung der Ohrdrufer Häftlinge und des Lagers kann an keiner Stelle im Tagebuch die Rede sein, weil im Ohrdruf Lager zum Zeitpunkt der Besetzung von den deutschen Bewachern zunächst keine Zeugen lebend zurückgelassen wurden. Erst einige Stunden bzw. Tage später konnten erste Häftlinge befragt werden, die sich womöglich entweder vor Ort vor der Evakuierung verstecken oder beim Todesmarsch fliehen konnten – beides war zusätzlich extrem lebensbedrohlich. Die überlebenden Häftlinge waren ausgemergelt und am Ende ihrer Kräfte.
Kurzer Ausflug zurück in die Zukunft: Im Alter von 84 Jahren wurde Charles Payne 2008 plötzlich zu einem gefragten Mann und musste der Weltpresse von Chicago aus unaufhörlich davon berichten, was er Anfang April 1945 in Thüringen erlebte: „Ich kam mit 18 in die Army, das war 1943, und wurde Soldat in der 89. Infanteriedivision der 3. US Armee, im 355. Regiment, Kompanie K. Wir marschierten im Frühjahr von Frankreich und Luxemburg über den Rhein, durchquerten Deutschland bis nach Eisenach, dann immer auf der Autobahn entlang, bis nach Ohrdruf.“ An die Ankunft im Konzentrationslager Ohrdruf erinnerte er sich noch 2008 klar und deutlich. „Als wir dort ankamen, wurde immer noch gekämpft. Wir standen unter Artilleriefeuer. Dann kamen wir zu dem Lager mit dem großen, hölzernen Tor und dem Stacheldrahtzaun. Zuvor an jenem Tag hatten die Wachen Gefangene zusammengetrieben und mit Maschinengewehren niedergemäht, nahe am Eingang des Lagers. Sie hielten alle ihre Trinktassen noch in den Händen, so, als ob man sie zum Essen gerufen hätte. Im Lager waren noch mehr Leichen, man hatte ihnen die Kleider ausgezogen und sie aufeinandergestapelt, zu großen Haufen. Sie waren verhungert. Ich hätte mir vorher so etwas nie vorstellen können. Und es gab ja noch so viele Lager.” Kurz zuvor kam es Ende Mai 2008 bei einem Wahlkampfauftritt in Las Cruces (New Mexico) des demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama zu einem zunächst nebensächlichen aber problematischen Versprecher vor Kriegsveteranen. „Ich hatte einen Onkel, der einer derjenigen unter den ersten amerikanischen Truppen war, die in Auschwitz eindrangen und die Konzentrationslager befreit haben, und die Geschichte in unserer Familie geht, dass er, als er heimkehrte, einfach nur auf den Speicher ging und das Haus für sechs Monate nicht verließ. Nun, offenbar hatte ihn irgendetwas wirklich tief berührt, aber zu jener Zeit gab es diese Art von Einrichtungen nicht, die jemandem helfen, diese Art von Leid zu verarbeiten.“ Die Republikaner erkannten nicht die eigentlich wichtige Aussage. Sie sahen darin aber schnell eine Blamage Obamas und machten den peinlichen Patzer zur Staatsaffäre. Sie bezichtigten den Präsidentschaftskandidaten der Amtsunfähigkeit und versuchten daraus noch längere Zeit Kapital zu schlagen. So ist eben der Wahlkampf in den USA. Der Versprecher von Obama galt seinem Großonkel Charlie (Charles Payne). Der Onkel seiner Mutter gehörte zu den Soldaten, die als erste Einheiten am 4. April 1945 nicht Auschwitz, sondern das Nordlager auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf betraten. Er gehörte mit zu den ersten Amerikaner, die den Barbareien in einem Schutzhaftlager auf deutschem Boden begegneten – noch vor Buchenwald, Mittelbau-Dora und weiteren KZ. In den USA ist Ohrdruf seitdem daher oftmals bekannter als in Deutschland, weil die Soldaten umgehend nach Hause berichteten, welcher grauenhaften und unmenschlichen Taten sie Zeuge geworden sind. Der Krieg und der Holocaust hatten tiefe Spuren in unserer Heimat und aber auch der Psyche der US-Soldaten hinterlassen, die Deutschland vom Nationalsozialismus befreiten. Der Obama-Versprecher sorgte für einen Effekt, der nachhaltig auf die Forschung und das Bewusstsein dieses eher kleineren Konzentrationslager wirkte.
Auch in Crawinkel erlebten die Einwohner am 5. April 1945 weiter regelmäßige Tieffliegerangriffe auf die deutschen Truppentransporte, die sich auf dem permanenten Rückzug befanden. Jagdbomber kreisten schon vormittags im Tiefflug und schossen auf alles, was sich bewegte. Im Kiefernwald etwa 300 Meter oberhalb der letzten Häuser der Waldstraße (heute Oberhofer Straße), war ein Splitterschutzgraben angelegt. Über dem Sägewerk Köth entdeckten Jugendliche um Alfred Ballenberger eine Geschützbatterie, die dort in Stellung gegangen war - vermutlich zur Flugabwehr. Die eigene Luftwaffe trat nicht mehr in Erscheinung. Trotz der drohenden Lebensgefahr waren scheinbar die Neugier und Abenteuerlust der Jugend noch größer. Die Bevölkerung hörte vermutlich immer nur noch Durchhalteapelle der Verteidiger und der Gauleitung aus dem noch nicht besetzten Teils Thüringens über Radioaufrufe. War der Endsieg immer noch nahe? Galt es nur noch wenige Tage unter größten Entbehrungen und Opfern durchzuhalten? Zum ersten Mal erfolgte an diesem Tag ein Artilleriebeschuss auf den Ort. Die Geräusche und das dadurch verursachende Elend und Leid sollten viele Einwohner danach ihr Leben lang nicht vergessen.
Klaus-Peter Schambach
Förderverein Alte Mühle e.V.